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Was meinem Ausstieg voranging

Aktualisiert: 21. Juli 2021


20.02.2021:


Eigentlich wollte ich schon 2011 aussteigen. Zwei meiner damaligen Tagebucheinträge zeigen, warum es nicht gelang. Die repräsentativen Szenen beschreiben stark verdichtet, welche Mechanismen uns bis 2016 in der OCG hielten.


Das Video verdeutlicht, wie man im totalitären Führungszirkel eines Kults kaum neutral oder vermittelnd agieren kann. Entweder man unterwirft sich und beteiligt sich idealerweise aktiv an der Radikalisierung der Gruppe oder man verliert das gesamte soziale und wirtschaftliche Umfeld. Dabei verschwimmen Opfer- und Täterrollen auf immer perfidere Weise.


Verflochten mit den beiden Tagebucheinträgen erzähle ich auch, wie es mir 2016 gelang, diese komplexe Dynamik zu durchbrechen: Es brauchte ein jahrelanges Täuschungsmanöver und am Ende eine grosse Portion Glück.


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Abschrift des gesprochenen Textes:


Was meinem Ausstieg voranging – Simon Sasek 2.0


Mein letztes Video über Sündenböcke ist bereits ein Jahr alt und es sorgte für einige Aufmerksamkeit. Ich räumte darin mit meiner Vergangenheit auf und gab meine E-Mail-Adresse bekannt für alle OCG-Ehemaligen, die noch eine Rechnung mit mir offen hatten. Wir wurden danach förmlich überrollt von einer Welle der Solidarität und Unterstützung. Vielen herzlichen Dank dafür. Doch ich bekam auch Drohungen, wie erwartet. Grösstenteils aber von Nicht-OCG-Mitgliedern: «Verräter! Nestbeschmutzer! Brutus! Judas!», hiess es. Oder: «Blut ist dicker als Wasser! Familie ist Familie!». Ich kann verstehen, dass man solche Urteile fällt, wenn man eine Geschichte nicht kennt.

(Titel: Was meinem Ausstieg voranging)

Zuerst möchte ich die Öffentlichkeit heute offiziell darum ersuchen, mir ein Recht auf eine eigene engagierte Zukunft zuzugestehen. Ich habe mir die Freiheit 2016 nicht erkämpft, um nun auch noch meine zweite Lebenshälfte meinem Vater zu widmen, neu einfach als sein öffentlicher Feind. Oder als OCG-Experte für die Medien. Ich möchte meine Lebensenergie gerne so einsetzen, wie ich es für sinnvoll halte, meine Erfahrungen als Grundlasge nutzen und die Altlasten, in die ich hineingeboren wurde, wenn möglich eines Tages hinter mir lassen.

Trotzdem gebe ich heute noch einmal einen sehr persönlichen Einblick in meine Geschichte. Einerseits um euch OCG-Mitgliedern eine Gegenstimme zu den internen Legenden über unseren Ausstieg zu bieten. Andererseits hoffe ich, dass ich damit auch Fragen von Aussenstehenden beantworte, die vielleicht noch offen sind. Zum Beispiel: «Wie läuft es im innersten Zirkel der OCG-Sekte ab, die hinter klagemauer.tv, kurz kla.tv operiert und vermeintlich seriöse Nachrichten produziert?». Oder: «Wie kam es, dass niemand ahnte, dass du plötzlich aussteigen würdest, du wirktest damals immer so überzeugt von allem, was dein Vater tut?».

Nun, beginnen wir bei der letzten Frage: Loyalität war und ist eine meiner Stärken. Ich unterordnete mich meinen Eltern fast zwei Jahrzehnte länger als es durchschnittliche Söhne tun. Doch mit der Zeit wurde meine Loyalität zur Schwäche. In den Jahren zwischen 2006 und 2016 mutierte sie allmählich zum Schauspiel. Wie es so weit kommen konnte, davon erzähle ich heute ein wenig. Der Sommer 2011 markiert einen Meilenstein in dieser Entwicklung.

Bevor ich aber über 2011 rede, beginne ich nochmal 2016. In meinem ersten Video mit dem Titel «Mein OCG-Abschied» schilderte ich die Szene, als ich am 29. August 2016 für mein Umfeld völlig überraschend mit der Bahn nach Deutschland untertauchte. Nein, diese Story war übrigens nicht aufgebauscht, wie mir einige vorwarfen. Es war alles noch viel heftiger. Mit dieser Zugfahrt organisierte ich unter anderem eine Australienreise, von der meine Frau schon seit ihrer Kindheit geträumt hatte. Weil es anders nicht möglich war, bezahlte ich dafür in Cash aus unseren Jugendersparnissen am Münchner-Flughafen. Mein Ziel war es, sie und unser Kind mit den erworbenen Last-Minute-Tickets eine Woche später aus der Schusslinie bringen zu können, denn es stand uns der grösste Crash unserer Geschichte bevor.

Sechs Tage später war es dann so weit: Ich führte eine letzte grosse Diskussion mit meinem Vater und der gesamten vordersten OCG-Führung. Einer gegen zwanzig. Acht Stunden lang. Ich wollte einen Kompromiss aushandeln. Ich hoffte ein letztes Mal, es könnte vielleicht einen Mittelweg geben zwischen dem angeblichen «Willen Gottes» und meinem Gewissen. Es gelang leider nicht. Wie schon viele Male davor. Darum lenkte ich ein letztes Mal ein und am Morgen darauf flog ich mit Mia und unserem Kind von München nach Sidney.

Am 15. September 2016, wir waren gerade in einem kleinen Camper durch New South Wales unterwegs, jagte ich unser damaliges Leben endgültig in die Luft. Mit einer kurzen Email. Ich antwortete darin auf eine Droh-Nachricht von zuhause, in der uns Tod und Verderben prophezeit wurde und erklärte, dass meine allfällige Rückkehr in die OCG von Verhandlungen auf Augenhöhe abhängen werde. Das war Blasphemie. Die ultimative Provokation, die endgültige Eskalation.

Die jungen Leute unter euch denken jetzt vielleicht: WHAT? Um aus der OCG auszusteigen, musstest du monatelang im Geheimen planen, untertauchen, tagelange Diskussionen führen, deine Frau und dein Kind nach Australien «entführen». Hört sich alles ganz schön psychotisch an. Hättest du nicht einfach kündigen und rauslaufen können?

Keine Chance! Glaube mir, es gab keinen anderen Weg für uns, um den Ausstieg gemeinsam unbeschadet zu überstehen und wir hatten ein Riesenglück, dass es überhaupt klappte. Gerade weil sich das so viele Menschen in unseren Breitengraden nicht vorstellen können, rede ich ja über unsere Geschichte. Denn wer sich das nicht vorstellen kann, weiss nicht, wie ein totalitäres System von innen aussieht. Und das ist ein Privileg. Vielleicht aber auch ein potenzielles Risiko: Meine eigene Geschichte hat mich gelehrt, dass der Charme des Totalitären die Unerfahrenen leichter verführt.

Zurück nach Australien: Dort, in einem kleinen Fischerdorf namens South West Rocks starb «Simi». Simi ist diejenige Rolle, die zuletzt mein gesamtes damaliges Leben ausfüllte, die mich ab 2011 zum Vollzeitschauspieler werden liess. Um Simi vorzustellen, lese ich nun zwei Tagebucheinträge vom 18. & 19. Juli 2011 vor. Das war 5 Jahre vor meinem Ausstieg, ich verfasste sie damals spontan handschriftlich in dieses Buch (zeige das Buch) und ich lese sie nun unzensiert und vollständig, ohne ein Wort zu verändern vor. Sie sind ein verstörendes Protokoll einer unheilvollen Dynamik, bei der es nicht nur einen Schuldigen gibt. Und ja, es wird jetzt peinlich für mich. Doch wie soll man von aussen je eine Ahnung davon bekommen, welche Faktoren es braucht, damit Menschen in totalitären Strukturen verharren, wenn diejenigen, die sich damit auskennen, aus Angst und Scham darüber schweigen? Soviel vorneweg: Ich investierte meine besten Jahre nicht für die OCG, weil ich dumm war. Genauso, wie die junge Afghanin am Hindukusch nicht unter Pashtunvali-Kodex lebt, weil sie dumm ist. Ich war schon in der Schulzeit und meiner Ausbildung zum Schreiner stets klar im Kopf gewesen und ich bin es auch jetzt in meinem Rechtsstudium wieder. Doch unterschätze nie die Macht einer kollektiven Psychose, wenn du in ihr aufwächst oder wenn sie dich umzingelt und du in der Minderheit bist.

Gehen wir nun 10 Jahre zurück. Ich bitte um Nachsicht für meine grössenwahnsinnigen Einlassungen, es war der verzweifelte Versuch, dem Unsinnigen einen Sinn zu verleihen. Zum Umfeld: Wir sind gerade in Belgien auf einer Konzert- und Vortragstournee meiner Familie, um neue OCG-Mitglieder zu mobilisieren. Meine Eltern, meine Frau, mit der ich gerade frisch verheiratet bin, meine 10 Geschwister und ich sind in einem zum fahrenden Haus umgebauten Doppelstöcker-Reisebus quer durch Europa unterwegs und machen gerade Station nach einem Auftritt. Es ist schwülwarm, ein Sommergewitter zieht auf:

«Ich befinde mich seit vielen, vielen Monaten in einer einzigen grossen Erschütterung. Immer und immer wieder erwacht eine Art psychische Platzangst in mir. Ich will sie verdrängen und meistens gelingt das auch wieder. Doch wenn ich über mein Leben nachdenke, wird mir jeweils klar, dass ich eingesperrt bin.

Keine Frage, das Leben, welches ich führe, ist beneidenswert. Ich habe einen hochinteressanten Job. Ich habe eine wunderschöne Wohnung, eine absolut hinreissende Frau. Ich reise gerade mit einem luxuriösen fahrenden Haus durch Europa und stehe immer wieder vor Tausenden auf der Bühne. Ich habe bisher eine fast unheimlich harmonische Ehe geführt und kenne die Geheimnisse der Harmonie. Ich bin an der vordersten Front eines Phänomens zu Hause, welches das Potential hat, die Welt zu verändern. Und doch ist mein Leben eine Gleichung, auf deren anderer Seite ein entsprechendes Defizit steht: Ich bin nicht frei. So simpel kann man das ausdrücken. Und darum ist es ganz einerlei, wie großartige Dinge ich auf der einen Seite erlebe, auf der anderen Seite folgt mit Sicherheit abgrundtiefe Verzweiflung, Auflehnung, Platzangst. Und so ist am Ende doch alles wieder auf Null.

Die schöne, neue, funktionierende Welt, die wir propagieren, ist möglich. Doch sie ist nur um den Preis jeglicher Selbstbestimmung erhältlich. Freiheit im Sinne dessen, was unsere Väter teuer erkämpften, wird es dann nicht mehr geben. Ich weiss, von was ich rede. Tatsächlich erlebe ich den Himmel auf Erden. Tatsächlich erlebe ich Harmonie, von der Millionen von Menschen nur träumen. Doch das heißt auf der anderen Seite, dass es keinen Millimeter Ausschermöglichkeit mehr gibt aus dem Programm. Das Programm, welches mein Vater empfängt, läuft und läuft. Niemals hätte ich mich von dieser Reise dispensieren lassen können, ohne alles zu zerstören. Ich kann nicht einen einzigen Tag ausscheren, etwas Eigenes tun, ohne von den Agenten des Programms wieder eingerenkt zu werden. Aus meinem ganzen Umfeld wird jeder jederzeit ein Agent, um mich wieder ans Programm zu binden: Ich bin in der Matrix gefangen! Das Programm, welches abläuft, ist, solange ich es akzeptiere, ein gutes und schönes Programm. Doch das ändert nichts daran, dass ich dafür an Schläuchen hänge und in einer Kapsel eingesperrt bin, aus der es kein Entrinnen mehr gibt, ohne zum Feind des Programms zu werden. Und alleine diese Tatsache genügt, um Platzangst zu erleben.

Wahre Freiheit und wirkliche Selbstbestimmung sind wertvolle Güter, um derentwillen beinahe sämtliche Kriege dieses Planeten geführt wurden. Und werden. Wird die Menschheit bereit sein, diese Güter zu opfern, um unser Programm zu leben? Eines steht fest: Panik ist in meiner Situation die definitiv falsche Reaktion. Ich muss langsam vorwärts gehen. Ich muss viel nachdenken. Ich darf nichts überstürzen. Vor allem muss ich vor Augen bewahren, was mein Vater sagt: «Selbstbestimmung ist immer eine Illusion. Du wirst immer an Schläuchen hängen. Entweder im Programm der Welt oder in unserem Programm. Im Programm des Christus-Organismus». Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob wir in dieser Geschichte die Matrix oder eher Morpheus verkörpern. Stimmt es, dass man immer an Schläuchen hängt?

Mir ist klar geworden, dass die Summe eines Menschenlebens, egal wie ich lebe, immer Null sein wird. Wer Drogen nimmt, hat große Highs aber auch tiefe Lows. Gibt es denn kein Leben in Freiheit, ohne OCG-mässige Mega-Highs und darauffolgende Mega-Krisen? Eine flache Sinuskurve in Freiheit wäre mir am liebsten. Echter Liesegang!»

19.7. 2011 Montag

«Zum Start dieser Reise bekam Pa einen geräucherten Lachs aus Sibirien geschenkt. Von Freunden aus Magadan, hiess es. Es war dieser Lachs, von dem Pa wiederholt geschwärmt hatte: butterzart, tiefrot ... eine Delikatesse. Auf dem Weg in den Bus ging dieser Lachs spurlos verschwunden. Keiner fand ihn. Es war wie verhext. Pa ärgerte sich, die Familie empfand es als eine typische Attacke auf ihn: «einfach dämonisch». Vorgestern wurde der Lachs wiedergefunden, in irgendeinem unmöglichen Fach des Busses. Keiner von uns konnte sich erklären, wie das möglich war. Ich hatte mich zwar über die Ansichten der Familie geärgert, aber jetzt sehe ich auch, dass es tatsächlich eine Attacke war.

Gestern war nun wieder ein Tag des Schreckens, des Grauens, der Dunkelheit. Die wirklich großen Stunden meines Lebens scheinen wohl in Fahrzeugen stattfinden zu müssen. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Gestern Abend saßen wir in unserem Bus an den Tischen und erlebten die schrecklichsten Momente unseres aktuellen Lebens. Ich wollte nicht mehr. Ausgehend von Ermahnungen, weil ich mich nach einem Funktest mit dem Bus verspätet hatte bei der Rückfahrt, eskalierte die Situation. Die Familie hielt mir meinen Eigenwillen vor und bearbeitete mich über Stunden.

Die Essenz war einmal mehr die Herrschaftsfrage. Meine mangelnde Unterordnung gegenüber Pa. Ich erklärte mein volles Verständnis gegenüber allen Forderungen, blieb aber dabei, nicht zu wollen. Bis die Situation aufs Ärgste eskalierte. Was ich erlebe, ist ein Epos. Andere drehen Filme über Geschichten, wie die unsrige, ich lebe darin.

Zum Anfang der Kollision offenbarte ich meine seit Monaten andauernden Kämpfe, redete über die gestern Morgen niedergeschriebenen Dinge. Pa konnte nicht verstehen, warum ich von Platzangst rede und erklärte, wie ich dies erwartete und voraussagte, dass ich frei sei, jederzeit wieder Schreiner zu werden. Ich würde mich zu wichtig nehmen. Es gebe nicht irgendeinen Skandal, wenn ich meinen eigenen Weg gehen würde. Es würde dem Ganzen nur Auftrieb geben.

Die Familie geisselte meine Sturheit, nach allen gütigen Erklärungsversuchen meines Vaters noch immer nicht nachzugeben. Ich war still, sie redeten und redeten: Von der Glückseligkeit, sich anzuvertrauen, über die Tatsache, dass ich kein Spezialfall sei und auch ich meinen Wesenspunkt vor Augen behalten könne. Am Anfang konterte ich noch und formulierte meine Angst vor Extremismus und einer programmierten Gewaltbereitschaft auf unserem Weg. Irgendwann wurde ich still. Je fester ich wurde, desto fahler wurde Pa, sackte in sich zusammen. Mama wurde hysterisch, schrie, als Kind würde sie mir jetzt den Hintern versohlen, stürmte auf mich los. Pa hielt sie am Ärmel fest und sagte, dies wäre nicht ihre Kompetenz. «Du kannst schon so verstockt bleiben, doch du wirst alles zerstören! Willst du wirklich, dass Papi zerbricht?», schrie sie mich an. Ich wusste, wenn ich nicht reden würde, würde er in sich zusammensinken, einen Herzinfarkt erleiden und ich hätte meinen Vater auf dem Gewissen.

Also redete ich: «Pa, das meinte ich mit Platzangst». Die ganze Familie schrie.

Dann stellte sich Mia gegen mich: «Simon, wenn du diesen Weg einschlägst, dann musst du wissen, dass ich hierbleibe. Ich bleibe hier, wo das Leben ist!».

Ich brannte vor Hass und Wut gegen mein Umfeld, welches nun auch meine innigst geliebte Mimi gegen mich aufgehetzt hatte. Mimi schluchzte und weinte, schüttelte jede Berührung von meiner Seite ab. Mami und Lois umarmten sie weinend und trösteten sie, zogen sie von mir weg. Da blickte ich meinem Vater mit tiefem Hass und in höllischer Finsternis in die Augen und sagte: «Was tut ihr mit meiner Frau? Habe ich das angerichtet oder nicht vielmehr ihr?» – «Was für ein Teufel ist in dich gefahren, Simon?» rief Pa laut. Er stürmte auf und brüllte, dass mir die Ohren gelten: «Satan, raus aus meinem Sohn!». Die gesamte Familie begann mit zu schreien, wie ein Heer. Sie geboten dem Teufel, mich zu verlassen, Pa dreschte auf mich ein. Ich sank in mich zusammen und stöhnte. Pa wurde aschfahl im Gesicht, alle hängten sich weinend an ihn. Jöschi umarmte ihn und flehte wie im Mantra: «Papa, gib nicht auf! Papa, gib nicht auf!».

Ich wusste nur noch, entweder entscheidest du dich fürs Nachgeben, fürs Leben, oder du verlierst alles. Und Darth Vader wird nur dein Vorname sein. So stand ich auf, drängte mich zu Pa durch, drückte mich an ihn und sagte ihm ins Ohr: «Bitte höre nie auf, diesen Weg zu gehen». Die ganze Familie weinte. Ich schluchzte, ein heftiger Weinkrampf nach dem anderen erfasste mich und schüttelte mich von Kopf bis Fuß. Wir standen als ganze Familie eng umschlungen da, weinten und weinten. Ich bat um Vergebung: «Dein Gott ist mein Gott, dein Reich ist mein Reich, dein Geist ist mein Geist, deine Prioritäten sind meine Prioritäten», sagte ich zu Pa. Immer wieder unterbrochen von heftigen Weinkrämpfen begann ich wieder auszusprechen, was ich bin: «Ich bin ein guter Jünger, ein echter Sohn». Ich tat Busse und umarmte jedes einzelne meiner Geschwister, auch Mama. Und zuletzt, weinend, meine Frau. Wir umarmten uns und küssten uns. «Es tut mir so leid», flüsterte ich ihr ins Ohr. Da war ich wieder der Simi. Da war ich wieder hell.

Es war bereits Mitternacht gewesen, als wir dann ins Bett gingen. Erst wollte ich in der Dunkelheit spazieren gehen, um nochmals alles zu verarbeiten. Doch ich bekam Angst im Dunkeln. Ich wollte nicht mehr in die Dunkelheit gehen. So ging ich ins Bett zu meiner Frau, weil ich spürte, dass sie mich brauchte. So schlief sie eng umschlungen ein. Sie krallte sich an mich wie ein Kind und zuckte im Schlaf immer wieder fest zusammen, während mich der dunkle Schatten erneut beschlich. Ich zitterte und stöhnte. Der Schatten war in mir. Auch als ich heute Morgen aufwachte, sah ich nur noch Dunkelheit. Schon die ganzen Tage über war das Wetter finster gewesen, so auch gestern Abend. Und heute Morgen ebenso. «Es hat alles keinen Wert», dachte ich. «Es scheint mein Schicksal zu sein, als Messala in unsere Geschichte einzugehen. Ich sah den endgültigen Crash heute eintreten. Ich versuchte angestrengt, mir nichts anmerken zu lassen.

Ich kam ins Fahrzeug-Unterdeck, machte meine OK-Ansagen. Zwischen Pa und mir war bereits wieder Funkstille. Lähmende, drückende Schwere lag auf uns zum Start der Fahrt, schweigend ass jeder seinen Teller. Ich sass im dunklen Schatten auf meinem Platz. Da reichte mir Mama ein kleines Stück frisches Schwarzbrot mit einem dicken Stück duftendem, tiefroten Lachs darauf zwischen den Sitzen durch und sagte: «Von Papa». Ich bedankte mich, nahm einen Bissen, es schmeckte herrlich. Und die Tränen schossen mir in die Augen. Pa sah es nicht. Pa begann brüchig zu reden: «Ist ein toller Lachs, oder?». Die anderen bekamen auch ein Stück. Alle freuten sich daran. Wir freuten uns daran. Wir freuten uns als ganze Familie daran. Ja, als ganze Familie freuten wir uns an einem Stück Lachs, der besonders gut schmeckte. Und meine Tränen in den Augen wollten nicht mehr verschwinden. Und auch jetzt sind die Tränen wieder da, wo ich es niederschreibe. Ich bin wieder eins mit meiner Familie.»

Ab Juli 2011 bis Anfang 2016 verliess ich meine Simi-Rolle dann äusserlich nicht ein einziges Mal mehr. Ich sagte kein kritisches Wort mehr. Gab intern den Gehorsamen, den Jubelperser, nach aussen den Einheizer und Fanatiker, so wie man es von mir erwartete. Solange bis ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen konnte. Dann entschied ich mich im Frühling 2016, es noch ein letztes Mal, sehr, sehr konstruktiv mit Ehrlichkeit zu versuchen. Ich wählte eine Angelegenheit, die nicht zu viele Emotionen aufwühlen würde. Es ging um das Drehbuch eines kurzen kla.tv-Dokumentarfilms meines Vaters über NASA-Astronauten des Challenger-Unglücks, die angeblich noch am Leben seien. Ich äusserte meine Sorge als kla.tv- Redaktor, dass wir damit eine Lüge in die Welt setzen werden und brachte solide Quellen, die das belegten. Mein Vater rief daraufhin seine vier loyalsten Mitarbeiterinnen zu sich, um zu erfahren, ob sie meine Sorge nachvollziehen könnten. Sie schmeichelten ihm, er mache das alles schon richtig und meine Warnung wurde ignoriert, die nachweisbare Lüge in die Welt verbreitet und millionenfach geklickt. Nach diesem gescheiterten Experiment entschied ich mich, die Konsequenzen zu ziehen und begann meine geheime Ausstiegsplanung.

Zwei Monate später und eine Woche vor meinem Untertauchen nach München, mein Ausstieg war schon fixfertig vorbereitet, sagte mein Vater in einer internen Besprechung: «Simon ist das Musterbeispiel des perfekten Mitarbeiters geworden. Der perfekte Umsetzer. So wie er sollten alle sein». Er sprach von Simi nicht von Simon.



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