29.08.2018:
Mit diesem Video ging ich am zweiten Jahrestag meines OCG-Ausstiegs an die Öffentlichkeit. Ich schildere darin eine kurze Szene meiner dramatischen Flucht aus der OCG, von eigener Musik begleitet. Es war am Nachmittag des 29. 8. 2016, als ich für alle Beteiligten wie ein Blitz aus heiterem Himmel nach München untertauchte. Niemand hätte sowas erwartet. Schon gar nicht von Simi.
Warum? Weil ich nach dem Juli 2011 endlich nahtlos diese Rolle gespielt hatte, die man von mir als Erstgeborenem des OCG-Führers seit Kindesbeinen erwartet hatte: Die Rolle des treuen und ergebenen "Umsetzers".
Doch der 29. 8. 2016 war mein Independence Day. Ein Tag des Aufstands, der brennenden Barrikaden, der Stürmung meiner persönlichen Bastille. Ein Arschtritt für den roi soleil mini. Ein schrecklicher Tag und zugleich der Wendepunkt unseres Lebens hin zum Besseren.
Die Musik zu diesem Video entstand in den Monaten der verheimlichten Vorbereitung des Ausstiegs. Im zweiten Teil der Lesung gebe ich Einblicke in mein Leben unmittelbar nach dem Ausstieg, begleitet vom Titel „Faraway Hills“, den ich im Winter 2017/18 kreierte.
_________________________________________
Abschrift des gesprochenen Textes:
Mein OCG-Abschied
Die Baseballmütze, die mein Vater bei unserer Grillparty am Tag zuvor aus dem Bodensee geangelt und mir geschenkt hatte, war tief in mein Gesicht gezogen. Die dunkelste Sonnenbrille aus meinem Sortiment fügte sich zwar nahtlos an sie an, doch wie unendlich sichtbar ich mich trotzdem fühlte. Zwei grosse Koffer im Schlepptau. In bemühter Unauffälligkeit drehte ich mich und spähte über die Bahnsteige. Anscheinend war da niemand, der mich kannte. „Welch GAU, wenn gerade jetzt der schmächtige Harry, seinen vorzeitigen Feierabend antretend, um die Ecke dieser Unterführung biegen würde“, dachte ich. Mich schauderte. Momentan waren gerade kein Harry, keine Berta, kein Ueli, oder wie sie alle hiessen, in Sicht. Gut so, denn es durfte keine Zeugen für die Stunde null meines Lebens geben.
Die Briefe waren eingeworfen, der VW-Schlüssel auf dem Vorderrad deponiert. Ich lauschte. Nirgendwo ein Knall? Keine Explosion? Keine Kriegssirenen? Nichts?
Der Zug traf ein, ich hievte mein Gepäck hektisch ins Abteil, die Schiebetüre schloss sich hinter mir und dann geschah es.
Die Bahn rollte los.
Sie tat es tatsächlich.
Ihre Geschwindigkeit stets steigernd, setzte sie sich in Bewegung und fuhr nach Deutschland. Nein, es war noch deutlich seltsamer: Sie glitt ohne zu bocken, zu trotzen oder zu entgleisen auf ihrer Spur. Woher nahm sie die Frechheit, es beinahe schwebend zu tun, gänzlich ohne ein beschwertes Holpern?
Der Kontrast zwischen dem schreienden Schmerz in mir und der säuselnden Fortbewegung dieser überheblichen Regionalbahn, überforderte meine geistigen Sensoren an jenem 29. August 2016 in etwa, wie es zu lautes Rosa Rauschen mit einem Baby-Hörnerv tut. So fuhr ich taubstumm dahin. Multidimensionalen Tinnitus ertragend, allmählich begreifend, dass es niemals mehr ein Zurück geben würde. Ich fuhr dahin auf eine Reise, die alles verändern sollte.
Ich, Simon Sasek, hatte meiner Heimat den Rücken zugekehrt. Ich hatte meinen Vater, meine Mutter, meine Familie und die OCG unwiderruflich verlassen. Ich war Simon Sasek 2.0. Die zweite Version eines Menschen, den viele zu kennen glaubten. Und das Update einer Person, die damit wieder bei null beginnen würde.
Heute, genau 2 Jahre später, arbeite ich als Umzugshelfer und Reinigungskraft in einem jungen Unternehmen aus der Region. Zudem gehe ich berufsbegleitend zur Schule und verinnerliche als 33-jähriger Ehemann und Vater den Schulstoff 17-jähriger Teenager, absolviere die Zweitwegmatura. Ich höre zu, lerne, kombiniere und staune täglich neu.
Ich habe derzeit leider keinen Kontakt mehr zu meiner Familie und bin darum überaus dankbar für Mia, die unendlich geduldig und liebevoll zu mir hält. Unser kleines Töchterchen ist unser grosses Glück.
Gemeinsam wandern wir in eine spannende Zukunft und wir werden wohl noch manche Geschichte von unserer neuen Reise erzählen können.
Comments