10.10.2019:
Zu meinem 35. Geburtstag gönne ich mir eine streckenweise zynische Zwischenbilanz. Eine nicht nur locker-flockige, mit selbstkomponierter Musik umrahmte bottom-line einer Lebenshälfte, die aufgrund bildungsfeindlicher Starthilfe nur teilweise zur Verwirklichung einstiger Träume taugte.
Ein stürmisch drängender Gedankenspaziergang während eines ganz gewöhnlichen Arbeitstags. Hier kommt ein neuer Eintrag in mein "Tagebuch in Wort und Melodie".
Das Video ist als herzliches Dankeschön der Interstaatlichen Maturitätsschule für Erwachsene (ISME) in St.Gallen/Sargans gewidmet, die mir über 7 Semester einen Neustart ermöglichte und den Weg an die Uni St. Gallen ebnete.
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Abschrift des gesprochenen Textes:
Geistesblitze beim Staubsaugen
Als wir noch klein waren, wollte mein Bruder später Staubsauger von Beruf werden. Wovon er bloss zu träumen wagte, ich habe es verwirklicht. Kürzlich staubsaugte ich gerade das Treppenhaus einer Mietskaserne, die ich als Allrounder für meine Firma oft betreue. Wie immer unter Zeitdruck, denn es muss ja alles rentieren im schönen freien Markt.
Ich fliege also an einem Flur-Spiegel vorbei und schmunzle über meinen Ghostbusters-Look in Kombi mit den Schweissperlen auf hoher Stirn. Einige Etagen weiter unten, das heisst wenige Sekunden später, gesellen sich zur eben erhaschten Halbtotale weitere Bilder vor meinen inneren Augen. Blitzlichter des ersten Schultags vor bald 3 Jahren: Wie ich mit Pilotenrollkoffer durch die Gänge der Maturitätsschule irrte. Ich, ein Familienvater, in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts geboren. Wie mich die Teenies aus den oberen Klassen ehrfürchtig in der Meinung grüssten, ich sei ein neuer Dozent. Wie ich dachte: „Ähm … könnt ihr mir sagen, wo ich das Schulzimmer der ersten Klasse finde?“.
Wie ich eintrat, mich an einen Schülerpult setzte und sich plötzlich gewisse Lungenflügel in mir mit Luft füllten, deren Existenz ich zuvor etwas lange negiert hatte.
„Niemals zurück, niemals zurück!“, brumme ich im Rhythmus der Unwucht des Staubsaugers auf meinem Rücken, während noch ältere Bilder von mir in Führungsposition an mir vorbeiziehen. „Welche Verantwortung er doch trägt“, denke ich. „Will die ganze Welt belehren, kokettiert aber gleichzeitig damit, in der Schule stets den Fensterplatz belegt zu haben. Welch´ Wagnis, Bildung zu verachten. Das heisst Vermächtnisse ganzer Generationen vor uns, mit Blut, Schweiss und Tränen erkauft, uns heute komprimiert auf dem Silbertablett dargeboten“. Ich bürste einen verrutschenden Fussabtreter gegen den Strich und ergänze gedanklich: „Wer Bildung verweigert und schlechtredet, bevor er etwas davon genossen und auch mal artig Danke gesagt hat, tut sich und der Welt keinen Gefallen“. Im Augenwinkel erfasse ich eine Spinnwebe, sauge sie ein und fälle den Beschluss: Ich werde Danke sagen.
Für bald 7 Semester an der ISME St.Gallen. Es war eine anstrengende und gute Zeit. Tagsüber staubsaugen und Kisten schleppen, nachts büffeln, mittwochs und samstags die Schulbank drücken. Doch Bio und Chemie wegen kann ich jetzt die Wirkungsmechanismen gewisser Medizin-Moleküle auf zellbiologischer Ebene nachvollziehen, das heisst, ich verstehe nun etwas besser, warum meine Frau noch nicht tot ist. Zwischen 2011 und ´14 wäre sie ganze zweimal gestorben, hätte die Schulmedizin unsere Lebenserwartung in den vergangenen 200 Jahren nicht verdoppelt. Während Vater Staat – by the way – fürsorglich für alles bezahlte. Unsere gesamten Krankenversicherungskosten wurden von sogenannten „IPV-Pauschalen“ abgedeckt, von denen stets noch die Hälfte zum Leben übrig blieb: Unsere damalige Haupteinnahmequelle neben staatlichen Kindergeldern. Danke für alles.
In Physik lernte ich, die Umlaufbahnen von Satelliten zu berechnen, oder nachzuweisen, dass die ISS, die man da oben mit blossem Auge sehen kann, nicht über einer flachen Erde herumeiert. Ihre messbare Umlaufzeit stimmt genau mit der nötigen Zentripetalkraft und dem Gravitationsgesetz überein. Liebe Flache-Erde-Gemeinde: Nein, wir werden nicht an der NASA herumgeführt. Quod erat demonstrandum!
Weil ich nun auch die kinetische Energie von Teilchen berechnen kann, verstehe ich inzwischen, warum all die Partikel und Gase, die wir in die Luft hinauspusten, in unserer Atmosphäre Klima-Probleme verursachen müssen. Dank dem Geografie-Kurs habe ich auch den Unterschied zwischen Wetter und Klima erfasst, beide Infos logisch verknüpft, was anscheinend gar US-Präsidenten zuweilen überfordert.
In my English-lessons I read “Brave New World” and was completely tied up in Houxley's genius. His ability to depict what it feels like to deny individualism in favour of totalitarian ideas was absolutely breathtaking to me. No more Solidarity Service ever!
So, jetzt bin ich durch mit Staubsaugen. Während ich daran denke, wie mein früheres Umfeld meinen neuen Weg als Abstieg betrachtet, spute ich mit dem Wischmop die Treppen hinauf. „Wie unterschiedlich man oben, unten, vorne und hinten doch ausmachen kann“, staune ich, während ich an Maos „Grossen Sprung nach vorne“ aus dem Geschichts-Kurs denke. Oder an seine „Kulturrevolution“, von treudoofen Jugendlichen ausgeführt, wie sie mit Niederschriften seiner Aussprüche, der Mao-Bibel in der Hand, herumliefen und sich gegenseitig fanatisierten. Die 40-50 Mio. Toten, die das Schaffen dieses Bildungsverweigerers hinterließ, sind für die Parteidiktatur in China bis heute nicht der Rede wert. Ich blicke also mit Sorgen gen Osten und bin froh, haben wir in Europa etwas, das sich Erinnerungskultur nennt.
Der Deutsch- und Literaturunterricht war ohnehin ganz mein Ding. Die Kommaregeln endlich fast gecheckt, Legenden wie Lessing, Seghers, Schiller, Kant, Goethe, de la Motte Fouqué, Büchner, Droste Hülshoff, Fontane, Hauptmann, Mann, Schnitzler, Kafka usw. gelesen. Wer´s nicht tut, hat einen Mangel an Vorfahren-Erfahrung, wiederholt Anfängerfehler, tut sich selber weh.
Et si je n`avais jamais lu Ionesco, qui m´aurait encouragé à rester fort quand je doutais? Je peux dire avec Bérenger maintenant: «Jamais je ne deviendrais rhinocéros!».
Auch wenn ich die Differential- und Integralrechnung, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Stochastik und dergleichen jetzt gerade nicht brauche, während ich die letzten quadratischen Fliesen des Hauseingangs sinusähnlich wische: Mein Staunen über das Weisheits-Fundament der Zivilisation – abseits irrrelevanter Filterblasen – hat sich in etwa um die Euler´sche Zahl potenziert.
Während ich den Umschwung der Liegenschaft nochmal kurz nachchecke und einen letzten Zigarettenstummel aufhebe, erinnere ich mich, dass ich ja auch die doppelte Buchhaltung verinnerlicht, die Grundlagen der Betriebswirtschaft assimiliert, volkswirtschaftliche Grundbildung genossen und die rechtlichen Basics für mein nächstes Studium inhaliert habe. Also, los geht´s!
Ich packe meine sieben Putzsachen ins Auto und fahre los zum nächsten Umzugstermin. „Oh, rien de rien, oh, je ne regrette rien…“ ertönt der Klingelton meines Handys. Bin in 5 Minuten da, beruhige ich den Chef und fahre weiter. Begleitet von etwas Heimweh nach all den Menschen, die die Welt so viel schlechter sehen als ich.
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