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Die «Neue Welt» ist ohne Geld für M.

Aktualisiert: 13. Nov. 2021


10.11.2021:


Gestern besuchte ich M. Ich kenne M., seit ich lebe.


M. schob mich schon mit dem Kinderwagen durch die Lande, als ich noch lallte, sabberte und frohlockte vor Glück, ein 1984er-Sprössling sein zu dürfen.


1984! Fast 200 Jahre nach den letzten Hexenprozessen in Europa!

1984! Fast 150 Jahre nach dem grossflächigen Ende von Grundherrschaft [1] und Leibeigenschaft! [2]

1984! Fast vier komfortable Jahrzehnte nach den Schrecken des Nationalsozialismus!


Hätte ich damals geahnt, was 1989 geschehen würde, hätte ich erst recht gelallt, gesabbert und frohlockt! [3] Denn mit der Wende würde eine Neue Weltordnung anbrechen und das holde Schicksal uns in Würde und Freiheit gedeihen lassen!


Das frohe «Ende der Geschichte» war nah!

Zurück zu M.:

M. ist heute knapp 60 Jahre alt. Sie widmete die 33 Jahre von 1983 bis 2016 der neureligiösen Gruppe OCG und deren Führer Ivo. Meinem Vater. Sie war eine Mitarbeiterin der ersten Stunde und damit schon vollzeitlich engagiert, als die OCG noch OBADJA hiess und als christliche Drogenrehabilitation einen gewissen Hippie-Charme atmete. M. war schon beteiligt, als aus der alten Bruchbude des ehemaligen Hotels «Frohe Aussicht» im schweizerischen Walzenhausen noch mehrheitlich Lachen und Gitarrenklänge drangen.

M. war von je her eine Idealistin, die nicht an Geld interessiert ist. Ohne Lohn zu beziehen, opferte sie Jahrzehnte ihres Lebens, um diesem Werk des Herrn zu dienen. Immerhin durfte sie lange Zeit gratis wohnen und bekam hin und wieder Lebensmittel geschenkt. Später, als damit Schluss war, mussten ihr Ivos gelegentliche Dankes-Floskeln von der Kanzel als Lohn für die unermüdliche Arbeit genügen. Immerhin durfte sie Teil der Organischen Christus Generation (OCG) bleiben, die den Bau der «Neuen Welt» vorantrieb. Um immer für diese Mission verfügbar zu sein, arbeitete M. in jeder freien Minute für die OCG und lebte unter dem Existenzminimum. Die Anzahl der Lebensstunden, die sie dabei opferte, kann man gar nicht zählen. «Die <Neue Welt> ist ohne Geld!», predigte Ivo ja immer. Oder: «Die <Neue Welt> beginnt zuhause!».

2016 war ich als M.‘s einstiger Kinderwagenpassagier langsam erwachsen und eigenwillig geworden. Es folgte mein Ausstieg aus der OCG. Die zurückbleibende M. stellte der OCG-Führung mitunter einige kritische Fragen zu meinem Ausstieg und sah sich sofort gnadenlos vor die Wahl gestellt: Entweder zu schweigen und wieder gehorsam zu sein oder die OCG zu verlassen. Sie wählte Letzteres und stieg aus. Niemand dankte ihr mit einer einzigen Silbe für die jahrzehntelangen Mühen. Durch den geforderten Kontaktabbruch verlor sie ihr gesamtes soziales Umfeld und musste noch einmal von Null beginnen. Ihre Ehe zerbrach, denn ihr Mann blieb der OCG treu.

Heute lebt M. in einem alten Wohnwagen mit Vorbau neben einer Autobahn, arbeitet als Reinigungs- und Pflegekraft und engagiert sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln für ihre vier Töchter, die den Ausstieg aus der OCG ebenfalls schafften. Zudem wurde sie zur Anlaufstelle für andere Jugendliche, die aus der OCG ausgestiegen sind. Ihre zwei Söhne, die in der OCG blieben, sollen ihre Mutter nicht sehen, da sie ja von dämonischer, geistlicher Pest befallen sei.

M. ist meistens fröhlich und guten Mutes, eine optimistische, bescheidene und dankbare Seele. Ihr Lachen ist legendär. Doch ich finde in hohem Masse ungerecht, wie sich ihre Geschichte im Vergleich mit derjenigen ihres einst guten Kameraden Ivo entwickelte. 1983 waren sie noch gleichberechtigte Teammitglieder gewesen, wollten die Welt erneuern und armen Süchtigen helfen. «Die <Neue Welt> ist ohne Geld!», predigte Ivo immer. Oder: «Die <Neue Welt> beginnt zuhause!».


Seine Predigt erfüllte sich für M. leider nur in einem Punkt: Die «Neue Welt» ist ohne Geld für M. Sie muss sich heute die elementarsten Dinge des Lebens vom Munde absparen. Sie konnte über die vergangenen Jahrzehnte aufgrund meist fehlenden Einkommens kaum Pensionskassengelder einbezahlen und ihr Ex-Mann arbeitete wegen seiner OCG-Dienste im unteren-mittleren Lohnsektor zu Teilzeit. An private Ersparnisse ist erst recht nicht zu denken, denn beide haben Ivo 35 Jahre lang auch noch 10% ihres bescheidenen Einkommens gespendet. Wovon werden sie nach ihrer Pensionierung wohl leben?

M. macht sich keine Sorgen. Dass sie einige Dinge gut gebrauchen könnte, muss man ihr hartnäckig entlocken.

Was M. gebrauchen könnte, ist nicht ein luxuriöser Sitz mit Panoramablick über den Bodensee, wie ihn Ivo heute sein Eigen nennt. M. braucht auch keine mindestens 6 Wochen All-Inclusive-Flugreisen nebst 6 Wochen Familien-Strandurlaub pro Jahr wie er. Sie braucht nicht seinen Neuwagen-Fuhrpark, seine Transporter- und Reisebusflotte, sein privates Luxus-Wohnmobil und schon gar nicht seine fünf abbezahlten grossen Liegenschaften. M. braucht kein Multimillionenvermögen.

M. braucht fliessendes Wasser für ihre Toilettenspülung, damit sie diesen Winter nicht erneut Eimer schleppen muss, sofern das alte Regenwasserfass überhaupt genug Ertrag abwirft. M. braucht zudem handwerkliches Know-How, um ihren Wohnwagen mit Vorbau etwas dämmen zu können, damit sie ihn vielleicht kostengünstig beheizen kann, bevor der Winter vollends einbricht und sie wieder frieren muss wie letztes Jahr. Ihre beiden OCG-Söhne, beide handwerklich begabt, dürfen ihr nicht helfen, denn das wäre gemäss OCG eine «Querverbindung». [4]

M. klagt nie. Während sie die bescheidene und naturverbundene M. blieb, die mich damals mit dem Kinderwagen durch die Lande schob, ist Ivo inzwischen schwerreich und machttrunken geworden. Während er seinen fleissigen und idealistischen JüngerInnen die «Welt ohne Geld» in Aussicht stellt, geniesst und nutzt er die Privilegien seines angehäuften Vermögens in erhabener Selbstverständlichkeit.

Die OCG ist kein Verein, keine Stiftung, keine Gesellschaft. Die OCG ist ein Einzelunternehmen. Alle Vermögensgegenstände des Panorama-Zentrums und angelagerter Firmen gehören: Ivo Sasek. Und aus dem einst lottrigen Hotel «Frohe Aussicht», heute millionenschwerer Sitz der OCG, dringen inzwischen nicht mehr Gitarrenklänge und Lachen, sondern via kla.tv immer wieder Verschwörungsmythen und demokratiefeindliche Propaganda, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt im deutschsprachigen Europa ernsthaft auf die Probe stellen. Nebst «Dokumentationen» über die «Flache Erde» und die Gefährlichkeit dämonisch besessener Menschen.


Dämonisch besessene Menschen? Teuflische Weltverschwörung? Ivos «Neue Welt» erinnert in Praxis und Rhetorik eher an das 17. Jahrhundert.


Liebe M., wäre die Zeit nach 1984 für uns beide vorwärtsgelaufen, dann wärst du als Schweizer Bürgerin von deinem Arbeitgeber würdevoller behandelt und entschädigt worden als die abtrünnige Frau eines Hörigen unter Landherrschaft. [5] Und mir wäre vielleicht erspart geblieben, mich als Sprössling eines potenziellen nächsten Heinrich Kramer wiederzufinden. Wir beide hätten wohl nicht Zeugen davon werden müssen, wie ein digitaler Hexenhammer auf krisen-gepflügten Boden fällt und als Pflanzung einer «Neuen Welt» wuchert. [6]


Ich habe ausgelallt und ausgesabbert. Aber schweigen kann ich dennoch nicht.


P.S. Wollen Sie M. unterstützen? Bitte melden Sie sich unter "Kontakt" und wir werden Ihnen nach kurzer Rücksprache mit M. sowohl Mailadresse als auch Bankverbindung von M. mitteilen.


 

[1] Eine mittelalterliche Form der Herrschaft im ländlichen Raum: Der Landesherr erhält das Privileg der Hoheit über ein Stück Land und die darauf wohnenden Menschen als Lehen vom Kaiser, dem Herrscher von Gottes Gnaden.

[2] Leibeigene, auch Eigenleute oder Hörige genannt, waren im Mittelalter zu Frondiensten verpflichtet und durften nicht vom Gutshof des Leibherrn wegziehen. Falls sie es dennoch schafften, eine Existenz in der Stadt zu gründen, durften sie dortbleiben, falls sie innerhalb eines Jahres nicht von ihrem Herrn gefunden und eingefordert wurden. Es galt dann das Prinzip «Stadtluft macht frei». Viele stürzten in der Stadt allerdings ins soziale Elend, weil sie kaum Anschluss ans komplizierte Stadtleben fanden und dort zu viele Unfreie von einer Karriere als Bürger träumten.

[3] 1989 fiel der Eiserne Vorhang, was zu einer Neuen Weltordnung ohne die Supermacht «Sowjetunion» führte. Der befürchtete 3. Weltkrieg blieb aus und die Liebe meines Lebens wurde in Ostdeutschland geboren.

[4] So werden in der OCG Beziehungen – auch unter OCG-Mitgliedern – genannt, die das Potenzial zur Rottenbildung haben und der Führung damit gefährlich werden könnten.

[5] Siehe Fussnoten 1&2

[6] Ein mit viel Detailwissen über die OCG brillierender Artikel von Harald Lamprecht, in welchem er daran erinnert, dass Heinrich Kramers mittelalterliche Saat (Hexenhammer) erst in der frühen Neuzeit flächendeckend aufging und die Hexenprozesse entscheidend rechtlich legitimierte: https://www.confessio.de/artikel/1324

Quellen: Bild in Lizenz von fortton – stock.adobe.com


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