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Komm und sieh

Von Ruth Tuschewski

April 2021:


Ich sitze mit gefalteten Händen auf dem mitgebrachten Klappstuhl vor dem Bildnis meiner Welt und sage mir tausendmal «alles ist gut», während meine Daumen die Handrücken drücken, die Venen zerdrücken und mich erdrücken. Und ich blinzle und wie ich die Augen wieder öffne, sehe ich das Licht dort oben aus der linken Ecke scheinen, wo ein Stückchen Himmel fehlt im Bildnis und ich stehe langsam auf. Vielleicht zögernd, einen Moment, ob ich nicht vielleicht doch neugierig bin? Aber ich gehe, den Rücken dem Riss zugewandt.

Mein ganzer Himmel brüllt, er steht auf der Bühne und schmettert Worte auf uns nieder: «Die himmlischen Heerscharen sind hier unten auf der Erde, begreift ihr nicht, wir sind in einem Krieg. Ja? Wir befinden uns im Krieg und wenn wir den nicht gewinnen, glaube mir, dann ist es hier unten vorbei.» Und ich höre, wie ich frage: «Aber was für ein Krieg und gegen wen?». Doch da beginnen auch schon alle um mich herum zu nicken. Ihre Köpfe bewegen sich auf und ab, alle in den Reihen um mich herum und ihre Köpfe vereinen sich zu einer Welle und mein Kopf wird davon mitgerissen, und ich nicke und nicke, unmerklich, unwillkürlich, während meine Hände schreiben: Wir sind im Krieg. Meine Blicke streifen meine Kameraden (nenne sie aber Geschwister), die eifrig mitschreiben, was vom Himmel fällt. Dann erheben wir uns und klatschen, dankbar dem Himmel für seine Worte, dankbar dem Dienst, dem wir uns hingeben, in dem wir leben, der uns trockenes Brot und Äpfel serviert und in den Pausen stehe ich in den Gängen mit zwei Freundinnen, die davon schwärmen. Aber nur mein Kopf nickt, während sich im Bildnis ein weiterer Riss bildet, weil dort der Himmel den Krieg prophezeit und ich nicht davon schwärmen kann, viel schlimmer noch, ich denke, dass er lügt. Und während mein Kopf nickt, ist es schon kein Gedanke mehr, sondern flüsterndes Wissen.

Aber er habe dafür Beweise, sagt er. Auf der Leinwand sehen wir Bilder von einem explodierenden Jeep irgendwo in der Wüste und der Erzähler spricht, erzählt von Atombomben und wie den Opfern die geschmolzenen Augäpfel aus den Augenhöhlen laufen. Wir erschaudern und einige Kinder schreien, aber der Himmel spricht: «Die Kinder müssen das sehen, sonst begreifen sie nicht, warum wir den Dienst brauchen». Aber meine Hand schiebt sich über die Augen meiner kleinen Schwester und ich sage leise zu ihr «du brauchst das nicht zu sehen». Und sie schmiegt ihren kleinen Kopf an meine Brust und schläft ein, während mir die Tränen über die Wangen laufen und dort heisse Wutspuren hinterlassen.


Wir sitzen in Runden und berichten, hören und tauschen uns aus, wie böse die Welt ist, wie glücklich wir über die tausend Hände sind, die uns helfen, die uns umarmen und uns ihren Segen geben, aber es sind dieselben, die auf mich zeigen, mich auf den Boden drücken und schreien: «Es ist deine Schuld, dass wir nicht stärker im Geist sind, du bist eine Last und du bist rebellisch. Kapituliere!», bis ich weine und sage: «Ich kapituliere». Caput, lateinisch für Kopf. «Kopf ab», fordern sie – der Himmel ist der Kopf und wir sind nur Mitglieder.


Der Riss aus dem Himmel reisst unaufhaltsam weiter, durch die Leinwand, die vielen dünnen Fasern geben nach, hängen raus. Ich will raus aus diesen tausend Händen, denn es ist nicht so schön hier, wie sie sagen. «Familienhilfswerk» nennen sie sich und rufen von den Bühnen: «Komm und sieh!». Nur sehen sie nicht, wie mein Vater im Auto sitzt, seinen Kopf gegen das Lenkrad schlägt, wie er zuhause aufspringt und uns anbrüllt: «Ich bring euch alle um!».

Dafür sehe ich Hitlers Machtstruktur, eine Pyramide mit unzähligen kleinen Pöstli, wie stolz sich mein Vater «Stubenleiter» nennt. Er hat einen Leiterposten. Macht über eine Handvoll Kopfnicker.

Mit klopfendem Herzen halte ich die auseinanderklaffenden Bildfetzen zusammen, zu gross meine Angst vor dem, was sich dahinter verbergen könnte, es sogar sicher tut und ich halte sie dann doch zu lieber zusammen, die ich verliere, würde ich tatsächlich gehen.


An dem Tag, an dem der Riss den linken unteren Rahmen erreicht, breche ich mit den letzten Fäden zusammen, sammle alle Fetzen ein und stehe mit meinem Koffer voller Ängste, Erinnerungen und Schrecken am Bahnhof. Am Abend zuvor hat sich mein jüngster Bruder an meinen Hals geklammert, so als wüsste er, dass es das letzte Mal sein sollte. Ich schliesse den Koffer, sobald ich Ruhe habe, werde ich das Bildnis neu zusammensetzen und vielleicht einmal begreifen.




Quellen: Bild in Lizenz von megaflopp – stock.adobe.com


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